Wir brauchen mehr Europa

Kai Simmerl: Tobias, seit Juli bist Du neuer Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Haushaltsausschuss. Welche Aufgaben hat der Haushaltsausschuss?

Dr. Tobias Lindner: Ein großer Teil meiner Arbeit findet in Ausschüssen statt. Hier beraten Abgeordnete aus allen Fraktionen zusammen an Gesetzentwürfen und Anträgen und versuchen, Kompromisse zu finden. Die Hauptaufgabe des Haushaltsausschusses ist die Aufstellung des Bundeshaushalts, das heißt jedes Jahr im Herbst – von September bis circa Ende November – diskutieren wir ausführlich, wofür in Deutschland im kommenden Jahr Geld ausgegeben werden soll – und wofür nicht. Das ist nichts anderes, als die politischen Schwerpunkte des nächsten Jahres zu bestimmen.

Darüberhinaus sind wir auch unter dem Jahr dafür zuständig, neue Gesetze nach ihren Auswirkungen für den Haushalt zu beurteilten und über so genannte „gesperrte“ Titel im Haushalt zu entscheiden. Das sind Geldbeträge, über deren Freigabe der Ausschuss entscheidet, wenn er gewisse Bedingungen als erfüllt ansieht.

Eine weitere wichtige Funktion hat ein Unterausschuss, der Rechnungsprüfungsausschuss, dem ich angehöre: Dieses Gremium kontrolliert die Verwendung der Mittel, die im Haushalt festgelegt sind, und deckt gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof Missstände auf.

Trotz Wohlstand und stetigem Wirtschaftswachstum seit dem zweiten Weltkrieg sind die Industrienationen tief verschuldet. Was macht Haushalten für die Regierungen so schwierig?

Das sich Staaten verschulden, ist an sich erst mal nicht schlimm. Kritisch wird die Sache dann, wenn Schulden nicht mehr abgetragen werden oder dauerhaft neue Schulden gemacht werden. Um ein Beispiel zu geben: aus meiner Sicht kann es in einer Rezession durchaus vernünftig sein, gewisse schuldenfinanzierte Ausgaben zu machen, beispielsweise um Investitionen zu fördern. Andererseits muss der Staat aber dann, wenn die Ökonomie in einer Hochkonjunkturphase ist, Überschüsse erwirtschaften, um das Defizit dann wieder abzutragen. So sieht es auch die Schuldenbremse in etwa vor.

Soweit die „reine Lehre“. Leider ist politisch das Erwirtschaften von Überschüssen alles andere als populär: dazu muss man entweder Ausgaben kürzen oder Einnahmen erhöhen. Drastisch gesprochen: an sich hätte im Jahr 2011 die Bundesregierung demnach die Steuern erhöhen müssen. Dass die FDP nach wie vor über Steuersenkungen fantasiert, zeigt einen Teil des Problems.

Meiner Meinung nach kann ein Abbau des staatlichen Defizits nur dann gelingen, wenn Politik viel besser als bisher vermittelt, welche finanziellen Rahmenbedingungen es gibt und wofür Geld ausgegeben werden soll. Mehr demokratische Teilhabe und nachhaltige Haushaltspolitik müssen Hand in Hand gehen.

Das Etatrecht wird auch als Königsrecht des Parlaments bezeichnet. Gerade laufen die Haushaltsverhandlungen. Welche Verbesserungsvorschläge hast Du bezüglich des Etat-Entwurfs der Bundesregierung? Wo könnte gespart werden? Wo zahlen sich hingegen Investitionen langfristig aus?

Wir GRÜNE haben eine ganze Menge an Änderungs- und Verbesserungsvorschlägen für den aktuellen Entwurf des Haushalts. Aus meiner Sicht müssen wir viel mehr Mittel in die Energiewende, unter anderem auch in Forschung auf diesem Gebiet, investieren. Wir brauchen auch mehr Geld für Soziales, beispielsweise zur Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit. Und wir brauchen mehr Mittel im Kampf gegen Rechts. Ein Gebiet, das den Wirtschaftsetat, den ich in der Fraktion betreue, betrifft, ist eine neue, nachhaltige Rohstoffstrategie. Statt wie Rösler auf die Ausbeutung von Minen im Ausland zu setzen, müssen wir ran an die Entwicklung alternativer Rohstoffe, an mehr Rohstoffeffizienz und schließlich und vor allem an geschlossene Stoffkreisläufe und besseres Recycling.

Damit wir uns solche Mehrausgaben und Schwerpunkte erlauben können, wollen wir GRÜNE an anderen Stellen einsparen. Wir konsolidieren, um zu investieren. Vor allem bei der Bundeswehrreform ist noch „viel Luft“: eine verkleinerte Armee braucht nicht mehr Rüstungsgüter in dem Umfang, wie sie derzeit bestellt werden. Auch „altes Material“ sollten wir frühzeitig außer Dienst stellen, wenn es nicht mehr gebraucht wird. Hier ist es mir wichtig, dass Altwaffen nicht auf dem Weltmarkt verramscht, sondern verantwortungsvoll entsorgt werden. Auch im Wirtschaftsetat gibt es Einsparpotentiale: so geben wir knapp 20 Prozent des gesamten Wirtschaftsetats für die Förderung der Luft- und Raumfahrt aus. Hier lassen sich unnötige Subventionen kürzen.

Du bist Wirtschaftswissenschaftler. Kannst Du in einfachen Worten erklären, wieso Deutschland von Europa und dem Euro besonders profitiert.

Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe: Deutschland liegt in der Mitte Europas, das heißt wir haben alleine schon geographisch bedingt viele Handelsbeziehungen mit dem „Ausland“. Dazu kommt, dass die deutsche Wirtschaft sehr stark exportorientiert ist. Mit der Europäischen Union und dem Euro machen wir quasi aus dem „Ausland“ ökonomisch betrachtet „Inland“. Beispielsweise führt eine gemeinsame Währung dazu, dass für den Export in das europäische Ausland kein Wechselkursrisiko mehr besteht: Ein Unternehmer weiß also, wie viel Euro er für sein Produkt am Ende erhalten wird. (Wenn er beispielsweise in die USA sein Produkt verkauft und hierfür einen Preis in US-Dollar verlangt, führen Änderungen in Wechselkurs zu dem Risiko, dass er seinen Verkaufspreis in Euro nicht sicher kennt.) Wenn man sich vergegenwärtigt, dass etwa 60 Prozent unseres Exports nach Europa gehen, ist dies ein sehr großer Vorteil. Außerdem wird eine Gemeinschaftswährung weniger aufgewertet als die D-Mark. Der Euro kommt unserer Exportwirtschaft zugute, da unsere Produkte so für die Käufer günstiger sind.

Dem EFSF wurde im Deutschen Bundestag zugestimmt. Es kann sein, dass er nicht ausreicht. Im Gespräch sind unter anderem Hebelmechanismen, um die Wirksamkeit des EFSF zu erhöhen und eine vorzeitige Einführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Wie funktioniert der ESM?

Der ESM stellt Kredite für Staaten zur Verfügung, die zeitweise Schwierigkeiten haben, am Kapitalmarkt Geld zu bekommen. Sollte es absehbar sein, dass der Staat seine Kredite nicht zurückzahlen kann, darf der ESM kein Geld mehr geben. Ein überschuldeter Staat bekommt erst dann Kredithilfen aus dem ESM, wenn auch die privaten Gläubiger (zum Beispiel Banken) beteiligt werden. Wer Wertpapiere eines Landes kauft und Zinsen kassiert, muss eben auch das Risiko eines Ausfalls tragen. Mit dem ESM bekommen wir endlich einen dauerhaften Krisenmechanismus, der hilft, die Eurozone zu stabilisieren und der den Weg für mehr europäische Integration bereitet. Sicherlich ist der ESM nicht die Lösung aller unserer Probleme, aber er ist ein wichtiger Baustein – den wir GRÜNE übrigens lange gefordert haben und bei dem Merkel und Co. zu lange gebremst haben.

Wir GRÜNE schließen einen vernünftig ausgestalteten Hebelmechanismus grundsätzlich nicht aus. Ein wirksamerer EFSF vermindert insgesamt das Risiko, dass Staatsanleihen ausfallen und somit auch deutsche Garantien in Anspruch genommen werden. Falls es aber in einem Staat unter dem EFSF zu einem solchen Schuldenschnitt kommen würde, hat die genaue Ausgestaltung eines Hebelmechanismus einen deutlichen Einfluss darauf, wie stark Garantien von Nationalstaaten in Anspruch genommen werden. Kurz: Ein Hebel erhöht zwar nicht die Obergrenze der Summe für die wir haften, verändert aber die Risikostruktur. Unserer Auffassung nach stellt ein Hebel ein grundsätzlich neues Instrument im EFSF dar. Die Entscheidung über einen Hebel muss deshalb öffentlich vom Plenum des Bundestages und nicht hinter verschlossenen Türen im Haushaltsausschuss getroffen werden

Welche Wege gibt es, damit Europa gestärkt aus der Krise kommt?

Die Antwort auf die gegenwärtige Krise ist meiner Ansicht nach nicht „weniger Europa“, wie die CSU und die FDP dies propagieren – wir brauchen ein „mehr“ an Europa: für mich heißt dies, dass wir dauerhafte Krisenmechanismen wie den ESM benötigen, um Spekulationen an den Finanzmärkten wirksam bekämpfen zu können. Gleichzeitig wird es ohne eine Finanztransaktionssteuer und das Schließen von Steueroasen nicht gehen. „Mehr Europa“ bedeutet aber für mich auch, dass Europa demokratischer werden muss, damit wir eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik entwickeln können. Statt Hinterzimmertreffen, wie sie Merkel und Sarkozy gerne zelebrieren, muss das Europäische Parlament in seinen Rechten gestärkt werden.