Warum ich für Gauck stimme

Die Causa Wulff ging quälende zwei Monate, für mich gefühlt manchmal deutlich länger. Im Nachhinein denke ich, man muss bei der Frage, ob Christian Wulff zurücktreten soll, zwei Dinge voneinander trennen: den Zeitpunkt, an dem ich der Auffassung war, dass ein Rücktritt Wulffs für das Amt aber auch für ihn als Person vernünftig wäre – und den Zeitpunkt, an dem man als Abgeordneter dies auch offen sagt – oder anders formuliert – aktiv fordert. Ersteres- also ab wann ich dachte, dass ein Rücktritt jetzt das Beste wäre- war für mich Anfang Januar nach dem Bekanntwerden diverser Telefonanrufe klar. Dass ich damals nicht öffentlich gesagt habe, Wulff solle zurücktreten, hängt auch damit zusammen, dass ich eigentlich dieses „Rücktrittsgeschrei“ nicht mag. Auch heute kann ich mit dieser Entscheidung gut leben. Vergangenen Donnerstagabend, als klar war, dass die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten beantragen wird, war für mich dann der Zeitpunkt gekommen, an dem ich der Auffassung war, jetzt ist ein Rücktritt Christian Wulffs nicht nur „sinnvoll“, sondern auch unumgänglich – und so kam es wenige Stunden später dann auch.

Die letzte Bundesversammlung habe ich im Sommer 2010 als „einfacher Kommunalpolitiker“ mit Spannung am Fernseher verfolgt. Als ich im Juni 2011 dann in den Bundestag nachrückte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass es im Laufe der aktuellen Legislaturperiode erneut zu einer Bundesversammlung kommen wird. So bin ich jetzt seit Freitag, 11 Uhr, Mitglied der 15. Bundesversammlung und darf am 18. März den Nachfolger von Herrn Wulff wählen.

Am vergangenen Wochenende haben sich die Ereignisse dann überschlagen und für viele – auch für mich – einigten sich CDU/CSU, SPD, GRÜNE und FDP überraschend auf Joachim Gauck. Einen gemeinsamen Vorschlag dieser Parteien hatte es zuletzt 1989 bei der Wiederwahl von Richard von Weizsäcker gegeben.

Joachim Gauck ist ein Kandidat, der von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt wird, aber er ist kein grüner Kandidat. Es fällt schwer, Joachim Gauck  in eine Kategorie„links“, „liberal“, „konservativ“ einzuteilen – und es ist gut, dass das schwer fällt. Nicht alle Positionen von Joachim Gauck teile ich. Im Gegenteil: Es gibt Themen, wie beispielsweise die Vorratsdatenspeicherung,  bei denen sich unsere Positionen unterscheiden dürften. Und natürlich habe ich noch Fragen an den Präsidentschaftskandidaten. Am kommenden Dienstag wird Joachim Gauck in unserer Fraktionssitzung zu Gast sein und uns die Gelegenheit bieten, ihm unsere Fragen direkt zu stellen.

In den vergangenen Tagen bestand oft der Wunsch nach einer überparteilichen Kandidatin oder einem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Wenn man diesen Wunsch für richtig hält und ernst nimmt, dann schmerzt es mich auch nicht, dass Joachim Gauck kein „grüner“ Kandidat ist. Er ist ein überparteilicher, aber gewiss nicht unpolitischer Bewerber um das Amt des Bundespräsidenten! Ihm gelingt es, durch die Macht seiner Worte Menschen zu berühren und nahbar zu sein. Joachim Gauck stößt Debatten an und hat das Zeug dazu, dem Amt des Bundespräsidenten die Aufgabe zurück zu geben, die viele Menschen in den letzten Wochen schmerzlich vermisst haben. Ich will keinen Bundespräsidenten, der mir jeden Sonntag mein Parteiprogramm vorbetet, sondern einen, der mich zum Nachdenken, zur Diskussion, ja auch zum offenen Widerspruch anregt. Und auch deshalb werde ich in der 15. Bundesversammlung am 18. März 2012 Joachim Gauck meine Stimme geben.