Warum der Hammel nicht springen wollte

Seit gut einem Jahr bin ich nun Abgeordneter – vergangenen Freitag erlebte ich ein weiteres Novum als Mitglied des Bundestages: das Parlament war plötzlich nicht mehr beschlussfähig und die Sitzung wurde aufgehoben. Was war geschehen?

Freitag, 15. Juni 2012, 11:05 Uhr: ich wollte mich gerade auf den Weg zu Horst Seehofer machen. Der bayrische Ministerpräsident ist in diesem Jahr Präsident des Bundesrates und hatte in dieser Funktion mich als „Hauptberichterstatter“ für den Haushaltsplan der Länderkammer (sowie vier Kolleginnen und Kollegen) zu einem Mittagessen ins ehemalige preußische Herrenhaus gebeten, um die Details des Haushaltsentwurfs für 2013 zu besprechen. Fast auf dem Weg zum Bundesrat ertönte schließlich ein tiefes Klingeln auf den Gängen – das Zeichen für einen Hammelsprung. Im Plenum hatte es bei der Abstimmung über „Tagesordnungspunkt 46d“ (Hierbei ging es um einen gemeinsamen Entschließungsantrag von SPD und GRÜNEN zum Erhalt des Presse-Grossos) Zweifel an der Beschlussfähigkeit bzw. den Mehrheiten im Plenum gegeben.

Also: alle raus aus dem Plenarsaal, um anschließend über die Westlobby diesen wieder durch eine der drei Türen („Ja“, „Nein“, „Enthaltung“) zu betreten. Je eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter aus Koalition und Opposition zählt an jeder Tür die Anzahl der Kolleginnen und Kollegen, die durchgegangen sind. Zwar gab hatte die Koalition für ihre Meinung eine überaus deutliche Mehrheit, aber insgesamt waren nur rund 210 Abgeordnete durch die drei Türen gegangen. 310 – die Hälfte der Anzahl der Mitglieder – hätten es sein müssen, damit das Parlament beschlussfähig ist. Bis auf 7 Ausnahmen waren alle Kolleginnen und Kollegen plötzlich auf Toilette, in der Raucherpause und ich ohnehin auf dem Weg zu Horst Seehofer. In anderen Worten: Die Opposition hatte den Hammelsprung boykottiert.

In den folgenden Stunden war viel zu hören und zu lesen über Kommentierungen von Koalitionsvertretern: „Foulspiel“ oder so ähnlich schrien sie. Manche sprachen sogar von einem Anschlag auf den Parlamentarismus und dergleichen. Was war tatsächlich geschehen? Ich persönlich finde auch, dass eine absichtlich herbeigeführte Beschlussunfähigkeit des Parlaments ein Ausnahmefall bleiben sollte. Aber wie kam es dazu? Und erlebten wir am Freitag tatsächlich einen nie zuvor da gewesenen Vorgang deutscher Parlamentsgeschichte?

Fangen wir mit der Frage an: Nein! Dass der Bundestag nicht beschlussfähig ist, ist alles andere als ein einmaliger Vorgang. Zwischen 2002 und 2007 kam es insgesamt dreimal vor, dass nach einem Hammelsprung die Beschlussfähigkeit nicht gegeben war. Und in Richtung FDP, die jetzt lautstark sich echauffiert, sei gesagt: die FDP war zwischen 2002 und 2007 in der Opposition – und hatte damals anscheinend kein Problem mit solche Manövern…

Und wie kam es jetzt am Freitag dazu, dass sich die Opposition weigerte, den Plenarsaal zu betreten? Ich persönlich bin kein Freund des Betreuungsgeld, ganz im Gegenteil, ich würde mich als entschiedenen Gegner dieser Idee bezeichnen. Aber ich bin fairer Demokrat: wenn eine Regierung diese Idee und durchsetzen will, und wenn sie dazu eine Mehrheit hat, die dies beschließt, dann muss ich das akzeptieren. (Nichts anderes wäre übrigens am Freitag in erster Lesung möglich gewesen…)

Aber: als fairer Demokrat und vor allem als Vertreter der Opposition erwarte ich ebenso, dass bei Gesetzesberatungen meine Rechte als Parlamentarier gewahrt bleiben. Ich will der Regierung Fragen zu ihrem Gesetzentwurf stellen können, will beispielsweise erfahren, was denn die berühmte Herdprämie kosten soll. Genau das hatte meine Fraktion am Mittwoch, den 13. Juni 2012, im Haushaltsausschuss, dem ich angehöre, vor. Herr Heeken, der Staatssekretär von Kristina Schröder, hatte uns schriftlich angeboten, dass die Ministerin in die Sitzung kommt und Auskunft über ihr Gesetzesvorhaben gibt. Darüberhinaus hatten wir eine Sitzungswoche zuvor die Zusage der Koalitionsfraktionen erhalten, dass der Ausschuss von diesem Angebot Gebrauch machen würde.

Am Mittwoch hieß es dann jedoch zu Sitzungsbeginn „Alles auf Anfang“ oder, in anderen Worten: Frau Schröder wird nicht kommen. Die Koalitionsfraktionen setzten mit ihren Stimmen den Tagesordnungspunkt– ohne Begründung – wieder ab. Im Familienausschuss wurde nahezu zeitgleich eine Gesetzesberatung im Schweinsgalopp geplant: Sonderausschusssitzung am Freitag, um für den Montag der kommenden Sitzungswoche eine Anhörung zu beschließen. Und auch im Ältestenrat, der die Tagesordnung festlegt, gab es Unmut (wie auch inzwischen Bundestagspräsident Norbert Lammert öffentlich zugibt) über den Plan, ein solches Gesetz mit enormen haushalterischen Auswirkungen noch vor der Sommerpause durchzupeitschen. Aber: „Mehrheit ist Mehrheit“ hörten wir von Koalition – und solange diese eine Mehrheit hat, können entsprechende Dinge und Zeitpläne eben beschlossen werden. Soll heißen: keine Auskunft im Haushaltsausschuss, Anhörung im Schnellverfahren im Familienausschuss, erste Lesung dann direkt am 15.6., damit in der kommenden Sitzungswoche das „Ding“ noch vor der Sommerpause beschlossen werden kann.

„Mehrheit ist Mehrheit“ dachten wir uns dann schließlich auch am Freitag um 11.05 Uhr. Wenn es der Koalition plötzlich so eilig ist, wird sie auch gegen 13 Uhr, wenn über das Betreuungsgeld diskutiert werden soll, sicher noch eine eigene Mehrheit haben und diese Debatte durchsetzen können – und so kam es dann zum Hammelsprung und, ehrlich gesagt, auch zu meiner eigenen Überraschung zum Ergebnis, dass insgesamt 126 Abgeordnete von CDU/CSU und FDP nicht mehr anwesend waren. (Zur Klarstellung: die Koalition verfügt über 318 Stimmen und hätte mit diesen problemlos die erste Lesung des Gesetzes erzwingen können – wären nur die Abgeordneten da gewesen…)

Ich bin jetzt ein gutes Jahr „dabei“. Eines der ersten Dinge, die ich gelernt habe, war der Satz „Plenum geht immer vor“. Soll heißen: egal, welch anderen Termine es gibt, sei es in Berlin oder im Wahlkreis oder im Ausschuss, Abstimmungen und Debatten im Plenum, die wichtig sind oder das eigene Arbeitsgebiet berühren, haben immer Vorrang. Zugegeben führt dies manchmal zu etwas unhöflichen Terminabsagen bei Gesprächspartnern, aber als Prinzip und Arbeitsauffassung teile ich diesen Satz voll und ganz. Eine weiteres Lernerlebnis hatte ich beim Blick in unsere Fraktionsgeschäftsordnung. Dort heißt es sinngemäß: „Während der gesamten Plenardebatte ist Hammelsprungdistanz zu wahren.“ In anderen Worten: solange der Deutsche Bundestag seine Beratungen führt, ist eigentlich jeder und jede Abgeordnete gehalten, sich nicht mehr als 10 Minuten (Das ist die minimale Zeit zwischen der Ankündigung und dem Beginn eines Hammelsprungs.) vom Plenarsaal zu entfernen, das heißt auch, dass man freitags erst dann in den Wahlkreis zurückreist, wenn das Plenum beendet ist. (Ausnahmen muss man sich eigentlich schriftlich genehmigen lassen.) Bei CDU/CSU und FDP war dies anscheinend bei über 120 Mitgliedern nicht der Fall. Sie waren am Freitag bereits um 11 Uhr nicht mehr im Stande, binnen 20 Minuten den Plenarsaal zu betreten. Dass diese nicht irgendwo in Berlin „versteckt“, sondern anscheinend schon vor den Toren der Stadt waren, verrät schließlich auch die Tatsache, dass der Bundestag am Freitag nicht mehr zusammentrat. Die Koalition hätte nämlich auch mit ihrer Mehrheit – wäre sie denn vorhanden – den Bundestag beispielsweise um 13 Uhr seine Beratungen über das Betreuungsgeld wieder aufnehmen lassen können…

Ich bin gerne bereit, mich einer Debatte im Parlament über das Betreuungsgeld zu stellen – auch wenn ich es für unsinnig halte. Aber ich erwarte, dass eine solche Debatte in geordneten Bahnen mit ordentlichen Ausschussberatungen verläuft und nicht im Hau-Ruck-Verfahren, wie letzte Woche geplant.

Übrigens: viele werden sich fragen, über was Horst Seehofer und ich gesprochen haben (außer dem Haushaltsentwurf des Bundesrates natürlich), als wir erfuhren, dass die Debatte über das Betreuungsgeld geplatzt ist. Ja, es war spannend und interessant (und „Mutti“ rief zwischendrin auch an) – und über alles weitere haben wir Stillschweigen vereinbart.