Im Sommer ein Jahr – zwischen Alltag und Dauerausnahmezustand

Oder: meine ersten zwölf Monate als Mitglied des Deutschen Bundestages.

Wieder mal im Zug. Als ich diese Zeilen in mein Notebook hämmere, frage ich mich, wie viele Stunden meines Lebens ich eigentlich im letzten Jahr in Zügen der Deutschen Bahn verbracht habe. Ich weiß es nicht. Sicherlich aber war das letzte Jahr das „zugreichste“ meines Lebens – bis jetzt.

Es war Mittwoch, der 8. Juni 2011. Seit wenigen Tagen wusste ich, dass Ulrike Höfken Umweltministerin in Rheinland-Pfalz werden wird. Ich wurde der „Nach-Nach-Nachrücker“ von Ulrike, nachdem zuerst Fred Konrad und dann Pia Schellhammer sich für ihr Landtagsmandat entschieden hatten. Ulrike, die zuvor 17 Jahre dem Bundestag angehörte, hinterlässt mir große Fußspuren. Nachdem ich schon den ganzen Nachmittag ziemlich nervös war, kam schließlich gegen 17 Uhr das Fax aus Bad Ems vom Landeswahlleiter in Berlin . Er teilte mir offiziell mit, dass ich in den Bundestag nachrücken werde, und fragte mich, ob ich das Mandat annehme. Ich musste nicht lange überlegen: Um Mitternacht rückte ich offiziell als rheinland-pfälzischer Bundestagsabgeordneter nach. Um 9 Uhr des kommenden Morgens betrat ich zum ersten Mal den Plenarsaal, Norbert Lammert begrüßte mich. Meine erste Debatte die ich live im Plenum erleben durfte war passenderweise zum Atomausstieg, besser hätte der Einstieg für einen Grünen kaum sein können.

In den kommenden Tagen und Wochen folgte das, was jeder neuer Abgeordnete vor sich hat, egal ob er nachrückt oder von Beginn einer Wahlperiode dem Bundestag angehört: MitarbeiterInnen suchen, Büro aufbauen, Wahlkreisbüro finden (was mehrere Monate in Anspruch nehmen kann). Was sich als Unterschied für Nachrücker darstellt, ist natürlich die Suche nach einem passenden Ausschuss. Es ist immer einfacher, sich in eine Fraktion einzufinden, die frisch gewählt ist und in der sich alle finden müssen, als zu einer Fraktion, die sich quasi gefunden hat, dazu zu stoßen. Umso glücklicher bin ich, als ich erfahre, dass mein Wunsch, in den Haushaltsausschuss zu gehen, sich erfüllt.

Wie war nun dieses erste Jahr als Bundestagsabgeordneter? Es ist eine Mischung aus „Routine bekommen“ und „Dauerausnahmezustand“. Fangen wir mit der Routine an: Mein Eindruck ist, dass Parlamentarier zu sein etwas ist, das man nicht lernen und worauf man sich nur schwer vorbereiten kann. Die „Lernkurve“ in den ersten Monaten ist sehr steil. Das betrifft nicht nur parlamentarische Abläufe an sich (Welche Rechte habe ich? Wie komme ich an Informationen? Mit wem muss ich meine Ideen und Initiativen abstimmen?), sondern auch das Netzwerk an Kontakten, das man sich zwangsweise aufbauen muss. Routine darin zu bekommen – und das ist notwendig, alleine schon, damit manche Dinge sich weniger zeitraubend erledigen lassen – ist nicht einfach. Kolleginnen und Kollegen erzählen mir, dass man mindestens ein Jahr, viele eine ganze Legislaturperiode, braucht, um richtig in der Parlamentsroutine drin zu sein und effizient zu arbeiten. Als Nachrücker ist dies natürlich alles andere als einfach. Oftmals macht die Öffentlichkeit keine Unterscheidung zwischen nachgerückten und „normal gewählten“ Abgeordneten. In der Konsequenz heißt das für mich, dass ich schneller als manch andereR schauen muss, diese Routine zu bekommen.

Und was meine ich dann mit „Dauerausnahmezustand“? Die Eurorettung und die Energiewende sind Dauerbrenner verbunden mit ständigen Sondersitzungen und sich spontan ändernden Terminplanungen. Das ständige Wechseln zwischen den unterschiedlichsten Themenkomplexen (z. B. Einzelhandel, Bundeswehrreform, Finanztransaktionssteuer, Förderung der Luft- und Raumfahrt, Standortschließungen etc.) und der enge Zeittakt lassen einen von Termin zu Termin eilen. Ich frage mich, ob die Themenpalette, die der Bundestag in den vergangenen zwölf Monaten abgearbeitet hat, normal ist. Der erneute Atomausstieg als Folge des Unglücks von Fukushima und die eingeleutete Energiewende mag die größte Herausforderung für unsere Infrastruktur seit Bestehen der Bundesrepublik sein. Ein Thema, bei dem wir erst am Anfang stehen und das uns noch viele Jahre begleiten wird. Die Weichenstellungen, die die Politik derzeit trifft (oder leider nicht trifft) werden für die Energieversorgung der nächsten Jahrzehnte entscheidend sein.

Die zweite „Ausnahme“, die mich fast tagtäglich verfolgt, ist die Schuldenkrise in Europa und die damit verbundenen Turbulenzen um den Euro. Gewöhnlich beschäftigt sich der Haushaltsausschuss, wie der Name schon sagt, mit der Beratung des Bundeshaushalts. Derzeit wird der Großteil unserer Zeit durch die Euro-Krise gebunden. Das geschieht manchmal planbarer, aber auch immer öfter überhaupt nicht mehr planbar. Gut in Erinnerung geblieben ist mir die Sitzungswoche im Herbst, in der es um die „Hebelung“ (die Koalition bestreitet bist heute, dass es sich um einen Hebel handelt und spricht lieber von „Optimierung“) des Rettungsschirms EFSF ging. In dieser Woche hatten meine Terminpläne eine Halbwertszeit von wenigen Stunden. Auch das ist eine Tatsache, an die ich mich in den letzten zwölf Monaten gewöhnen musste.

Und schließlich kam dann noch ganz unverhofft Joachim Gauck dazwischen: dass ich einen Bundespräsidenten in diesem Jahr wählen durfte, hätte ich auch nicht erwartet.

Politik als „Balance halten“

Wenn ich versuchen würde, ein Fazit aus dem letzten Jahr zu ziehen, dann würde ich sagen, dass Politik im Bundestag vielleicht daraus besteht, für sich eine gesunde Balance zu finden bzw. zu halten – in mehreren Aspekten:

Wie eingangs erwähnt ist die erste Hürde als Neuling, überhaupt mal in den „Takt“ der Bundespolitik reinzukommen, Routine zu entwickeln. Ganz sicher gehört dazu auch, sich daran zu gewöhnen, dass plötzlich vieles im Leben fremdbestimmt ist. Zeiten, die man im Kalender nicht als „privat“ markiert, werden gnadenlos verplant. Nicht zuletzt: Es wird einem nie langweilig. Termine kommen in Hülle und Fülle. Das Bundestagsbüro wird mit Anfragen geradezu überhäuft. Aber genau darin liegt die große Herausforderungen, Prioritäten zu setzen. Meiner Meinung nach besteht eine große Gefahr, nur noch „reaktiv“ Politik zu machen, durch das große Hamsterrad, das sich stetig dreht. Die eigenen Ziele zu verfolgen und weiterzuentwickeln braucht einen langen Atem.

Der zweite Balanceakt besteht meiner Ansicht nach darin, die richtige Mischung aus „sich integrieren“ und „nicht glatt schleifen zu lassen“ zu finden. Jeder Beruf (oder in diesem Fall besser „jede Tätigkeit“) erfordert selbstverständlich ein gewisses Maß an Anpassung an das neue Umfeld, an neue Regeln und Abläufe. Eine Tätigkeit wie Politik, bei der man häufiger in der Öffentlichkeit steht, erfordert zusätzlich ein Mindestmaß an Sensibilität dafür, wie man beispielsweise vor Kameras oder Publikum wirkt und dementsprechend auch ein Training und eine Anpassung an diese Erfordernisse. Aber ich versuche immer der Alte zu bleiben und meine Offenheit anderen Menschen gegenüber zu bewahren, Augen und Ohren auch außerhalb des Berliner Politikbetriebs offen zu halten.

Viele fragen mich, ob es mir denn „Spaß“ machen würde in Berlin. Die Antwort ist ein klares: „Nein!“ Politik ist alles andere als Spaß und Themen wie die Rettung unserer gemeinsamen Währung und damit eines geeinten Europas würde ich auch nicht als Spaß bezeichnen. Ich vermeide den Begriff „Spaß“ zur Gänze. Was ich schon sage ist, dass ich mit Freude und Engagement meine Tätigkeit verfolge und mein Mandat ausfülle, dass ich mich wohl fühle und dass ich versuche, die verschiedenen Balancen zu halten und nicht zuletzt auch mich selbst immer wieder kritisch zu reflektieren.

Wie geht es weiter? Das entscheidet in erste Linie unsere Partei, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und dann haben die Wählerinnen und Wähler mit ihrer Stimme bei der Bundestagswahl das letzte und vor allem wichtigste Wort. Ich möchte mich im Herbst bei unserer (und damit auch meiner) Partei um einen aussichtsreichen Listenplatz für die kommende Bundestagswahl bewerben. Manche fragen mich, mit welcher Strategie ich das angehen möchte. Ich bin fest überzeugt: wichtiger als jede Strategie ist es, gute Arbeit zu machen. Das habe ich die vergangenen zwölf Monate versucht – und das möchte ich auch weiterhin tun.